Der Mann aus Valencia (Erinnerungen von Walter Exler - Ehrenvorsitzender)

Es war an einem Tag am Ende der Sommerferien 1979. Wir waren auf der Rückfahrt von einem wunderschönen Ferienaufenthalt auf der Insel Møn in Dänemark. Die Kinder schliefen im Auto, und ich wurde auch schon müde. Es waren aber noch etwa 250 km zu fahren. Um mich wachzuhalten, schaltete ich das Radio an. Meine Frau und ich hörten WDR. Eine Lehrergruppe aus Lennestadt (Sauerland in Nordrhein-Westfalen) berichtete von einer Reise zu einer sich im Aufbau befindlichen Partnerschule in N`kondedzi, in der Provinz Tête in Mosambik. Das Projekt machte mich neugierig, vergaß es aber im Schulalltag bald wieder. Erst eine Zeitungsmeldung in der ökumenischen Zeitung Publik-Forum im Oktober 1979 erinnerte mich wieder an meine Neugierde vom Sommer. Ich nahm zu dem Kollegen Jochen Pfeiffer Kontakt auf und lud ihn zu einem Vortrag im Rahmen der katholischen Erwachsenenbildung in das Pfarrheim nach Hungen ein. Obwohl ich zur Schulleitung als Rektor und Leiter der Klassen 5 und 6 gehörte, wäre eine Schulveranstaltung nur sehr schwer durchzusetzen gewesen. Denn Mosambik gehörte zum sog. sozialistischen Lager  bzw. war leider in dieses Lager gedrängt worden, weil es die  "Berlinklausel"  nicht unterschrieb. Auch war in der antikommunistischen Propaganda in der Bundesrepublik immer wieder von Kirchen- und Christenverfolgung  in Mosambik die Rede. Ich hatte einige Kolleginnen und Kollegen zu diesem Vortrag im Januar 1980 eingeladen, u. a. eine ganz wichtige Person: Dorothea Fobbe. Sie hatte einen großen Teil ihrer Kindheit in Venda, einem sog. Homeland (Reservat für Schwarze während der Apartheidspolitik) in Südafrika  verbracht und war geprägt davon. Ihr Vater war dort als Missionar tätig gewesen. Dorothea ist eine Aktivistin mit einem sensiblen, aber auch völlig realistischen „Afrika-feeling“. Noch heute ist Dorothea stellvertretende Vorsitzende unseres Vereins. Nach dem Vortrag waren wir uns einig, die Lennestädter in ihrer Arbeit zu unterstützen, und wir teilten es auch der Presse mit. Der Schulleiter war darüber überhaupt nicht erfreut, er hatte Angst, man würde seine Schule und ihn der Kooperation mit einem „kommunistischen“ Land bezichtigen, was auch geschah.

Zu dieser Zeit gab es viele Diskussionen über den Ansatz der politischen Bildung in der Schule. Reicht es, das Elend in der Welt aufzuzeigen und die Verursacher und möglichen Verursacher zu benennen? Oder versuchen wir es mit solidarischem Handeln, das Schülerinnen und Schülern nicht im Frust der Ohnmacht stecken lässt. Sollte man nicht lieber ihnen und allem im Erziehungsprozess Beteiligten das Gefühl geben, etwas Positives zu tun? Und vielleicht unsere Welt ein klein, klein  bisschen besser machen. Dieses Konzept wurde bald von der Schulgemeinde übernommen, und wir hatten einen Trumpf gegen alle möglichen Hetzangriffe, Kommunisten in Afrika zu unterstützen. Das war der Mann aus Valencia, der Initiator der Idee, Schulpartnerschaften zwischen Schulen in reichen Ländern und Schulen in den armen, den sog. Entwicklungsländern aufzubauen. Seine Hoffnung und Überzeugung, Schulpartnerschaften könnten Verständnis und Fortschritt bringen. Er heißt Vicente Berenguer Llopes, von Beruf und aus Berufung katholischer Priester. Als junger Mann war er 1967 nach Mosambik in die Mission gegangen, als die Hauptstadt noch Lourenço Marques hieß, benannt nach einem portugiesischen Kaufmann. Mosambik war damals noch eine Kolonie der Portugiesen, während überall in Afrika die europäischen Staaten ihre Kolonien aufgegeben hatten. Offiziell trugen Mosambik und Angola nicht den Namen Kolonie, sondern die Portugiesen nannten ihre Kolonien „Überseeprovinzen“. In Lourenço Marques gab es zwei Stadtteile. Die Zementstadt der Weißen und die Hütten in der am Stadtrand gelegenen Barackenstadt Mafalala der Schwarzen.

 

 

Mafalala heute

Padre Vicente lernte Sprachen der Einheimischen, übernahm eine Kirchengemeinde im Norden des Landes, erlebte die Not und die mangelnde Bildung der Menschen und die Ungerechtigkeit der portugiesischen Kolonialkirche. Zu der unter der Aufsicht der katholischen Kolonialkirche stehenden Schulen durften nur Kinder kommen, die getauft waren oder sich zur Taufe angemeldet hatten. Durch die katholische Taufe konnte man sich also den Zutritt zur schulischen Bildung und zur Herrschaftssprache verschaffen. Die Kolonialverwaltung hoffte, sich auf diesem Weg eine Portugal treue schwarze Mittelschicht aufzubauen. Man nannte die kleine Schicht der getauften Schwarzen Assimilados, die Assimilierten. In der Zementstadt von Lourenço Marques durften die getauften Schwarzen aber trotzdem nicht wohnen, sondern nur arbeiten. Schlafen durften sie nur in den Hütten außerhalb der Zementstadt. Nicht die christliche Geschwisterlichkeit bestimmte den Wohnort, sondern nach wie vor die Hautfarbe. Padre Vicente vertrat die Ansicht und tut es noch heute mit 80 Jahren, dass christlicher Glaube nicht käuflich sein darf, sondern auf innerer, ehrlicher Überzeugung beruhen müsse.

 

 Im Kolonialreich des NATO-Staates Portugal begann es zu dieser Zeit unruhig zu werden. Auch in der „Überseeprovinz“ Moçambique. Der bewaffnete Widerstand der Einheimischen ging von den  nördlichen Landesteilen aus. Die brutale Reaktion von Kolonialarmee und gefürchteter Geheimpolizei PIDE  ließen  nicht lange auf sich warten. Als die Dorfbevölkerung in einer Siedlung in Vicentes Pfarrbezirk von der Portugiesischen Armee niedergemetzelt wurde, weil sie angeblich Aufständische versteckt gehabt hätte, bezeugte Vicente mit Freunden in London das Massaker. Vicente wurde von der Kolonialverwaltung des Landes verwiesen. Er fühlte sich aber dem Land und seinen Menschen tief verbunden. Der Mann aus Valencia nahm sie als Menschen in ihren Rechten ernst und dachte nicht daran, sie im Stich zu lassen. Bald reiste er nach Tansania zu den um Freiheit von dem kolonialen Joch ringenden Mosambikanern.

Vicente um 1974                                                                          Vicente mit Exler an der Gesamtschule Hungen

Die Aufnahme oben links stammt aus der Endphase des Befreiungskampfes. Der wurde aber letzten Endes nicht von den Aufständischen entschieden, sondern von der eigenen portugiesischen Armee, bekannt als Nelkenrevolution (25. April 1974).

Nachdem Mosambik am 25. Juni 1975 selbständig geworden war, kehrte Vicente in die Provinz Tête zurück. Viele Portugiesen hatten das Land verlassen, mit ihnen auch nicht wenige Angehörige der Geheimpolizei PIDE (Polícia internacional e de Defensa do Estada). - Vor 1945 war die Vorgängerorganisation dieser Geheimpolizei von der Gestapo aufgerüstet worden.- Auch nicht wenige von den Assimilierten, die ihr Schicksal mit den Kolonialportugiesen verbunden hatten, schlossen sich ihnen an und kehrten dem Land ihrer Geburt den Rücken, gingen nach Portugal oder auch Südafrika oder in das Rhodesien der Weißen. In dem von fast allen Bildungsträgern amputierten Land war die ärztliche Versorgung  katastrophal geworden, die wenigen Schulen standen ohne Lehrer da. Die Zahl der Analphabeten im Land lag bei 95 %. Wie sollte jetzt ein funktionierender Staat aufgebaut werden. Die siegreiche FRELIMO (Frente de Libertação de Moçambique) und jetzt herrschende Einheitspartei rief das Ausland um Hilfe. Wer kam? Zumeist Helfer aus den sozialistischen Ländern, aber auch aus Skandinavien und Holland. Die DDR war gut vertreten, aber auch überzeugte Kommunisten aus Portugal, die während der Salazar-Diktatur verfolgt worden waren. Es war ein Sammelsurium von Entwicklungshelfern, die zumeist guten Willens waren, aber oft nur chaotisch zusammenarbeiteten. Und dazu kamen natürlich auch die Militärberater aus der Sowjetunion, der DDR und Kuba mit zweifelhaftem politischem Einfluss. Am besten arbeiteten noch die Ärzte aus Kuba und Lehrer und Lehrerinnen aus Brasilien. Staatssprache blieb Portugiesisch, das überhaupt nur von wenigen Mosambikanern verstanden wurde. Noch heute spricht über 40 % der Mosambikaner nicht die offizielle Staatssprache. Mehr und mehr setzten sich in der FRELIMO die marxistischen Kräfte durch. Die Schulen der katholischen Kirche, die in ihrer überwiegenden Mehrheit mit dem Kolonialregime paktiert hatte, wurden in Staatsschulen umfunktioniert und manche Kirche - wie in Ferroviario, dem Eisenbahnerviertel in Maputo -  in ein Parteihaus der FRELIMO. Nach dem Staatskatholizismus Portugals herrschte ein dumpfer Marxismus der FRELIMO und zerstörte mehr vorkoloniale Strukturen, als er neue nationale aufbauen konnte. Aber es gab viele Widersprüche, wie auch die Geschichte von dem Priester Vicente Berenguer Llopez zeigt.

Zurückgekehrt in die Provinz Tête begann er nicht nur das Wort Jesu zu verkünden und die heilige Messe zu feiern, er versuchte ein Berufsbildungszentrum aufzubauen. Manche der FRELIMO Funktionäre hatten  nur wenig oder nichts verstanden  von ihrer Befreiungsbewegung. Sie wollten mit militärischer Gewalt ihre Ideologie durchsetzen, zumal es bald in der Region an der Grenze zu dem damaligen  weißen Rhodesien des Ian Smith (1970 -1979) Überfälle und Sabotageakte gab, ausgeführt vermutlich von schwarzen Assimilados, die in die von Großbritannien abtrünnige Kolonie geflüchtet waren. Schon zur portugiesischen Kolonialzeit bestand eine enge Verflechtung mit den Nachbarländern Südafrika und der britischen Kolonie Rhodesien. Nach der Unabhängigkeit Mosambiks setzten die weißen Herrschaftsschichten in beiden Ländern alles daran, das von Schwarzen regierte Mosambik zu destabilisieren. Die FRELIMO brauchte Soldaten und versuchte alle jungen Männer zur Armee zu holen, denen sie habhaft wurde. Pater Vicente verwies auf die Gesetze des Landes und verweigerte den FRELIMO-Funktionären die Herausgabe seiner minderjährigen Schüler. Dafür wurde er vom Militärkommandanten verhaftet und in ein Gefängnis der FRELIMO in Maputo gesteckt. Vicente sollte zum zweiten Mal aus Mosambik ausgewiesen werden. Diesmal von der staatstragenden FRELIMO -Partei. Als Präsident Machel davon erfuhr, wurde Vicente sofort freigelassen, und der für die Gefangennahme zuständige FRELIMO-Funktionär selbst mit Gefängnis bestraft. Vicente bekam im Erziehungsministerium vom Präsidenten die Aufgabe zugeteilt, für die „Schulproduktion“ im Land zu sorgen. Wie sollen Schulen in einem gerade unabhängig gewordenen Land mit einem Anteil an Analphabeten von 92 – 95 Prozent aufgebaut werden, wenn praktisch nahezu alle kolonialen Strukturen zusammengebrochen waren und noch keine neuen aufgebaut werden konnten? Ausländische Hilfsorganisationen sollten Partner werden. Sie boten Hilfe, aber auch Ideologie an.  Oft wurden Schüler als Lehrer eingesetzt, die gerade ihren eigenen Alphabetisierungskurs erfolgreich abgeschlossen hatten,  oder Erwachsene als Lehrer, die  vielleicht  Grundschulausbildung hatten.  Als Schulräume wurden in den Städten Kirchen requiriert, auf dem Land blieben nur schattenspendende Bäume als Unterrichtsplätze. Die Menschen, denen man im Kolonialreich jegliche Schulbildung verweigert hatte, wollten auch  teilhaben an den uns seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zugestandenen Bürgerrechten. Wie diese Bürgerrechte in einem Land praktizieren, das aus einer der letzten Kolonien in Afrika zu einem der ärmsten Entwicklungsländer der Welt geworden war? Vicente suchte Hilfe in Europa und vertraute auf die Unvoreingenommenheit, Offenheit und Spontaneität von Kindern und Jugendlichen. Wären nicht Partnerschaften von Schulen in einem reichen Industrieland mit Schulen in einem Entwicklungsland ein Weg, eine dringend  benötigte Zusammenarbeit in der Ökumene, der einen Welt, anzubahnen?

In Hungen fiel seine Idee, wie schon drei Jahre zuvor in Lennestadt, auf fruchtbaren Boden. Zusammen mit den Lennestädtern, mit denen wir im Laufe der Jahre noch viele Projekte in Mosambik gemeinsam durchführten, unterstützten wir den Ausbau der Schule für Waisenkindern in N`kondedzi an der Grenze zu Malawi. Das war der Anfang für die Gesamtschule Hungen. Gar manche andere Schulen in der Bundesrepublik Deutschland, besonders in Nordrhein- Westfalen, schlossen sich der Initiative an. Aber nur wenige haben lange durchgehalten wie Lennestadt und Hungen. Oft blieb es bei Einmalaktionen.

 

Pater Vicente Berenguer Llopes lebte und arbeitete bis zu seinem 80-jährigen Geburtstag im Juli 2017 in Mosambik.  Sein „Goldenes Mosambikjubiläum“, nachdem er 1967 in Lourenço Marques von Bord gegangen war, das seit 1975 Maputo heißt, hat er in Mosambik gefeiert. Heute lebt  der Mann aus Valencia wieder in seiner Geburtsheimat.

Bild links: Vicente mit einem Jungen, der vor der Rekrutierung durch die RENAMO-Banden geflüchtet ist (Bild: Exler 1987)

Bild Mitte: Besuch einer deutschen Delegation mit Jochen Pfeiffer und Walter Exler bei der Predigt von Vicente

Bild rechts: "Familie" von ???